Frei sein und das Leben genießen

Für unser Magazin m 3/2020 haben wir Rüdiger Grossler in der Überseestadt besucht.

Rüdiger Grossler liebt sein Zuhause und die Überseestadt

Es ist hell, geräumig, freundlich gestaltet. Wohnzimmer, Esszimmer und Küche sind ein einziger offener Raum. Es riecht nach frischem Kaffee, die Sonne scheint herein. Durch die offene Balkontür weht ein warmer Sommerwind. Die 4er-Wohngemeinschaft im BlauHaus wirkt ausgesprochen einladend. In diesem inklusiven Wohnquartier leben Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammen. Hier lässt es sich gut aushalten. Dieser Meinung ist auch Rüdiger Grossler: „Hier habe ich ein Zuhause gefunden, in dem ich mich wohlfühle. Ich bin glücklich und zufrieden.“ Dies glaubt man ihm sofort. Der 66-Jährige strahlt dabei übers ganze Gesicht.

Raus aus dem stationären Wohnheim
Die Wohngemeinschaft im BlauHaus ist Teil des „Martinsclub Quartier|Wohnen“. Sie ist ein Wohnangebot für Menschen mit Behinderung, die viel Unterstützung benötigen. Rüdiger ist im Oktober 2019 eingezogen. Besonders gut gefällt ihm das ambulante Konzept. In der großen Wohnung hat er sein eigenes Zimmer. „Ich bin frei und kann selbst entscheiden, was ich mache. Niemand schreibt mir etwas vor. Ich kann rein und raus wann ich will. So gefällt mir das“, sagt er voller Überzeugung. „Wir legen viel Wert auf Selbstbestimmung und individuelle Freiheit“, bestätigt Tina Reinhardt. Sie ist die Leiterin des „Quartier|Wohnen“ in der Überseestadt. Für Rüdiger ist all das nicht selbstverständlich. Dieses Konzept ist neu für ihn. Zuletzt lebte er in einem stationären Wohnheim. „Ich war dort an feste Abläufe gebunden, ob ich wollte oder nicht. Es wurde über meinen Kopf hinweg entschieden. Das war überhaupt nicht mein Ding.“ Umso glücklicher ist er, nun sein eigener Herr zu sein. Sein Bruder machte ihn auf das BlauHaus aufmerksam. „Da bin ich wirklich froh, dass er mir davon erzählt hat. Hier gefällt es mir viel besser. Ich habe Platz für mich und kann mich entfalten.“ Das liegt auch daran, dass er mehr mitbestimmen kann. Jeden Monat trifft sich die Wohngemeinschaft zum gemeinsamen Gespräch. „Da tauschen wir uns aus. Wir sagen, was wir auf dem Herzen haben. Es ist schön, ernst genommen zu werden.“ Zudem hat Rüdiger ein wichtiges Amt inne. Als Postbote leert er täglich den Briefkasten der Wohnung.

Ab zum Supermarkt
Seine Freiheit genießt Rüdiger Grossler sehr. Mit seinem elektronischen Rollstuhl bewegt er sich selbstständig durch die Überseestadt. Am liebsten fährt er zum Einkaufen. Beim Supermarkt ist er schon als Stammgast bekannt. „Da kaufe ich alles ein, was ich so brauche. Und wenn in der WG etwas fehlt, bringe ich das gleich mit. Einkaufen macht mir einfach Spaß“, erklärt er lachend. Als nächstes möchte er ins Walle-Center. „Ich habe gehört, dass es da viele schöne Geschäfte gibt. Das muss ich mir unbedingt mal angucken.“

In seiner Gegend unterwegs
Doch vorher geht es an die Überseepromenade. Der Blick auf den Landmarktower und den Strand ist fantastisch. „Diese Aussicht auf die Weser mag ich sehr. Hier fahre ich gerne spazieren. Dabei kann ich gut entspannen und abschalten“, sagt er. Rüdiger kennt die Wege in seinem Quartier. Das liegt daran, dass er sehr aktiv ist. „Die Überseestadt ist schön. Alles ist groß und modern, das mag ich.“ Alles gut also in Bremens neuem Stadtteil? Nein, nicht ganz. „Vor unserem Haus müsste es eine Ampel geben. Dann käme ich besser über die Straße. Und außerdem sollten hier mehr Busse fahren. Ich mag es hier, aber die Verkehrssituation könnte besser sein.“

… und dann kam Corona
Rüdiger Grossler ist unternehmungslustig. Besonders die Aktivitäten mit seiner Wohngemeinschaft liegen ihm am Herzen. Die Fahrten ins Schwimmbad bereiten ihm große Freude. „Die Bewegung tut mir gut“ findet er. Auch den Ausflug in den Zoo hat er in guter Erinnerung. Ein Höhepunkt war zudem die Silvesterfeier. „Wir haben Gäste aus dem BlauHaus eingeladen. Dafür haben wir gekocht und ein Buffet vorbereitet“, erinnert Rüdiger sich. Doch mit der Corona-Krise wurde alles anders. Wegen seines Alters und seiner Beeinträchtigung ist er vom Virus besonders bedroht. „Dann bin ich natürlich erstmal zuhause geblieben. Ich war lange Zeit gar nicht draußen. Das Coronavirus bereitet mir wirklich Sorge.“ Ausflüge und Freizeitaktivitäten fielen aus. Also musste er sich diese schwere Zeit zuhause vertreiben. In seiner schönen Wohnung ist ihm das aber gar nicht so schwergefallen. „Ich habe angefangen, auf meiner Fensterbank Knoblauch zu züchten. Außerdem habe ich viel gemalt. Einige Bilder hängen nun bei uns im Wohnzimmer“, erzählt er stolz.

Rüdiger Grossler ist endlich angekommen. In seiner Wohngemeinschaft und in seiner Überseestadt fühlt er sich wohl. „Hier will ich bleiben. Es ist toll hier. Ich bin frei und selbstständig. So soll es sein.“

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Magazin “m”, Ausgabe 3/2020.

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Lagershausen, Ludwig
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