Inklusion in weiter Ferne

Ein Kommentar des Martinsclub Bremen e. V. zur Rechtesituation von Menschen mit Behinderung in der Corona-Zeit.

Inklusion ist ein Menschenrecht. Dafür stehen wir vom Martinsclub ein. Nicht umsonst lautet unser Slogan: „Wir bieten das ganze bunte Leben.“ Das nehmen wir sehr ernst. Doch in der Corona-Zeit werden wir diesem Anspruch nicht gerecht. Leider können wir unseren Nutzer*innen momentan nur ein „eintöniges Leben“ bieten. Seit Monaten finden keine Bildungs- und Freizeitangebote statt. In den Wohn- und Betreuungsangeboten wird Dauerquarantäne eingehalten. Und wann die Arbeit in der Werkstatt oder der Schulbesuch für Menschen mit Behinderung zu „normalen“ Bedingungen wieder möglich ist, bleibt ungewiss.

Gegenwärtig werden die Grundrechte der meisten Menschen massiv beschnitten. Die Beschränkungen des „normalen“ Lebens müssen sein, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen. Besonders hart treffen die gesellschaftlichen Restriktionen jedoch Menschen mit komplexen Hilfe- und Pflegebedarfen, Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung sowie Senior*innen, die in betreuten Wohneinrichtungen leben. Sie alle haben den Stempel „Risikogruppe“ erhalten und sind sprichwörtlich von der gesellschaftlichen Bildfläche verschwunden. Der viel zitierte Schutz dieser Risikogruppen gilt dabei als maßgeblich für alle Anordnungen. Und auch wir setzen diese in unseren verschiedenen Leistungsbereichen konsequent um. Denn natürlich müssen wir unserer Fürsorgepflicht unter allen Umständen gerecht werden.

Mittlerweile sind jedoch einige der vorgeschriebenen Verordnungen kaum noch nachzuvollziehen und unseren Nutzer*innen zu vermitteln. Besonders jetzt, wo allerorts Lockerungen die Rückkehr zur „Normalität“ bewirken sollen, bleiben Menschen mit Beeinträchtigung außen vor. Während Menschen aus verschiedenen Haushalten sich wieder untereinander besuchen dürfen, gelten für Bewohner*innen besonderer Wohnformen strengere Regeln. Ihnen droht beim Verlassen ihrer Einrichtungen eine 14-tägige Quarantäne auf ihrem Zimmer! Es gibt keine Konzepte, damit auch Schüler*innen mit Beeinträchtigung ihr Grundrecht auf Bildung uneingeschränkt ermöglicht wird. Unklar ist auch, warum touristische Aktivitäten unter bestimmten Auflagen wieder möglich sind, für Gruppenreisen von behinderten Menschen diese jedoch untersagt bleiben. Das sind nur einige Beispiele für die gegenwärtig stattfindende Diskriminierung. Und es drängt sich die Frage auf: Auf welcher Rechtsgrundlage wird darüber entschieden, dass der Schutz eines Personenkreises wichtiger ist als dessen Selbstbestimmung bzw. dessen Freiheit?

„Nichts über uns, ohne uns“ ist der zentrale Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention. Jeder politische Beschluss verlangt, dass die Betroffenen in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Die Corona-Krise zeigt uns, wie weit wir aktuell davon entfernt sind. Menschen mit Beeinträchtigung haben keinen politischen Einfluss. Ihre Stimme oder die ihrer Interessenvertretungen haben kein Gewicht und werden nicht gehört. Wer in unserer Gesellschaft die Hosen an hat, kann man den Schlagzeilen der Zeitung entnehmen: Flugzeuge müssen abheben, Autos vom Band laufen, Strände bevölkert werden und selbstverständlich muss der Fußball wieder rollen.

Wir vom Martinsclub befinden uns in einem Dilemma. Als öffentlicher Träger der Behindertenhilfe sind wir ein Dienstleister der Region. Wir sind gesetzlich verpflichtet uns an Beschlüsse zu halten und diese umzusetzen. Uns selbst sind wir jedoch verpflichtet unseren Vereinszweck zu erfüllen. Dieser sieht unter anderem vor, Menschen mit Beeinträchtigung die maximale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Beides geht unter den gegebenen Voraussetzungen nicht zusammen. Klar ist, dass die aktuelle Situation schwerwiegende Folgen, sowohl für unsere Nutzer*innen, als auch für die bisher geleistete Inklusionsarbeit haben wird.

Wir fordern mehr denn je die Gleichberechtigung von Menschen mit Beeinträchtigung ein. Es kann nicht sein, dass eine sowieso schon sozial benachteiligte Gruppe noch mehr unter den Auswirkungen der Corona-Krise zu leiden hat als der Rest der Bevölkerung. Inklusion ist ein nicht verhandelbares Menschenrecht und diese gelten auch in schweren Zeiten.

Bretschneider, Thomas
Vorstand
Heche, Benedikt
Agentur selbstverständlich
Geschäftsführung