Der Alltag als Jugendhilfefachkraft in Schule

Was macht eigentlich eine Jugendhilfefachkraft im Martinsclub? Was sind die Herausforderungen? Und was ist besonders schön an der Arbeit? Der Martinsclub gibt einen realen Einblick in den Beruf.

Ein falscher Blick, ein falsches Wort. Es braucht nicht viel, damit Jonas an die Decke geht. Schnell verliert er die Kontrolle. In diesen Momenten bestimmen Gewalt oder Flucht sein Handeln. „Es kam vor, dass er mit einer Schere auf andere losging. Er trat Türen ein oder lief völlig unkontrolliert auf die Straße“. Das berichtet Sarah Morisse. Sie begleitet Jonas* in der Schule als Jugendhilfefachkraft. Schüler*innen wie Jonas werden der Kategorie „herausforderndes Verhalten“ zugeordnet. Einer Definition nach fallen alle Kinder darunter, bei denen ein dauerhaftes Missverhältnis zwischen den Normansprüchen der Umwelt und ihrem individuellen Beitrag vorliegt. Übersetzt heißt das: Wenn Kinder sich nicht so verhalten, wie es sich in einer normalen Schule gehört, bekommen sie den Stempel „verhaltensauffällig“ verpasst

In der Regel werden Ausprägungen von Autismus, das gesellschaftlich bekannte ADHS oder auch FASD (das Fetale Alkoholsyndrom), in diese Kategorie eingeordnet. Man spricht dann häufig von seelischen Beeinträchtigungen. Diese Bewertung von normalem und unnormalem Verhalten widerspricht jedoch dem Gedanken von Inklusion. Es steht im Gegensatz zur Idee der inklusiven Schule. Wenn ein Kind diesen Stempel bekommt, hat es Anspruch auf Hilfe. Gleichzeitig kann das aber auch als Belastung empfunden werden. Das kann Jennifer Klinner bestätigen. Sie betreut den 8-jährigen Grundschüler Markus* im Unterricht. „Die Hilfeleistung können Familien beim Jugendamt beantragen. Oder sie wird vom Jugendamt und der Schule empfohlen. Der Kontakt mit dem Jugendamt wird aber von vielen Eltern als negativ empfunden. Deswegen wenden sie sich nur selten selbstständig an die Behörde. Wenn dann ein Träger beauftragt wird, eine Jugendhilfefachkraft in Schule einzusetzen, liegt meistens schon einiges im Argen. Die Rolle der Fachkraft kann dann schon ziemlich belastet sein“, berichtet Klinner über eine Schwierigkeit ihres Berufs. Sie selbst musste diese Erfahrung noch nicht machen. „Ich habe einen guten Draht zur Mutter von Markus. Meine Arbeit wird von ihr sehr geschätzt“, sagt sie. Dabei ist sie sich bewusst, dass ihre Kolleg*innen anderes erleben. So zum Beispiel Sarah Morisse. Ihr Schüler Jonas bekam erst spät eine Betreuung zugeteilt. Da hatte sich die Familiensituation schon zugespitzt. „Die Situation ist heikel. Darum darf ich nicht ins Detail gehen“, sagt Morisse. Die Hilfe hätte früher kommen müssen. Schon vor der 2. Schulklasse. Sie ist sich sicher, dass dann vieles einfacher gelaufen wäre. Denn eine der wichtigsten Aufgaben als Jugendhilfefachkraft ist die regelmäßige Begleitung. „Jonas hat durch mich jemanden gefunden, auf den er sich verlassen kann. Ich bin seine Konstante“, berichtet sie.

Gute Arbeit braucht gute Unterstützung

Manche Schüler*innen verhalten sich scheinbar unberechenbar. Etwas bricht plötzlich aus ihnen heraus. Unerwartet. Auch sie sollen am gemeinsamen Unterricht teilnehmen. Damit das gelingt, ist spezielle Hilfe nötig. Beispielhaft dafür sind spezielle Rückzugsorte. Dort finden die Kinder zu innerer Ruhe zurück. Andererseits brauchen sie aber auch klare Regeln. „Ich habe Markus meine Bedingungen erklärt. Die sind wichtig, damit wir zusammenarbeiten können“, erzählt Jennifer Klinner. „Die Wichtigste lautet: Es wird nicht gelogen!“ Ein halbes Jahr hat es gedauert, bis ihr Schüler dies akzeptierte. Ab diesem Moment waren aber deutliche Fortschritte erkennbar. „Es ist super, wenn Markus zusammen mit anderen Kindern Fußball spielt. Oder er löst gemeinsam mit dem Tischnachbarn Matheaufgaben“, sagt sie. Diese Erfolge erklären, warum sich Jennifer Klinner für den Beruf entschieden hat. Die Jugendhilfefachkräfte in Schule sind nicht auf sich allein gestellt. Sie erhalten Hilfe von ihrem Arbeitgeber, dem Martinsclub. Für Sarah Morisse ist das ein wichtiger Faktor für ihre Arbeit. „Wir haben regelmäßig Fachberatung, Teamtreffen und Supervision. Dadurch kann ich meine Erlebnisse teilen, mir aber auch selber Hilfe holen“, so die 34-Jährige. Diese Hilfen sind notwendig. Denn der Job „am Schüler“, wie die Fachkräfte es formulieren, belastet. Er ist körperlich anstrengend. Und seelisch. „Durch die enge Zusammenarbeit mit Jonas ist eine emotionale Verbindung entstanden. Ich versuche, immer professionell zu handeln. Aber natürlich nimmt man vieles auch mit nach Hause. Vor allem, wenn ein Tag nicht so gut lief“, beschreibt Sarah Morisse. Diese Belastung darf den Fachkräften nicht zu nah gehen. Wie das gelingen kann, lernen die Mitarbeiter im Martinsclub. Der Arbeitgeber setzt auf mehrere Maßnahmen. Einerseits werden die Kolleginnen während der Arbeit oder direkt danach eng begleitet. Andererseits werden sie auch besonders ausgebildet.

„Wir sind uns über die Herausforderungen des Berufsbildes im Klaren.“ Das erklärt Christa Drescher. Sie ist die Fachleiterin für den Leistungsbereich „Jugendhilfe“. Vor 4,5 Jahren hat sie diese Abteilung im Martinsclub aufgebaut. „Als Jugendhilfefachkraft steht man im Arbeitsumfeld Schule enorm unter Druck. Dabei stellt das Verhalten der Schüler*innen manchmal nicht die größte Schwierigkeit dar. Häufig scheitert die Einbindung unserer Fachkräfte in den schulischen Alltag. Manche fühlen sich von den Lehrern und der Schulleitung allein gelassen. Leistungen werden nicht wertgeschätzt. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist so natürlich kaum möglich. Daher ist es wichtig, dass wir Wege bereiten, die für Entlastung sorgen. Und wir befähigen, mit Drucksituationen umzugehen. Hier arbeiten wir eng mit dem Fortbildungsinstitut m|colleg und unserer Personalentwicklung zusammen“, so Drescher.

Lebenserfahrung kann nützlich sein

Jennifer Klinner und Sarah Morisse haben sich früh entschieden. Sie wollten eine Karriere im sozialen Bereich. Sie absolvierten die Ausbildung zu Heilerziehungspflegerinnen. Bevor sie zum Martinsclub kamen, waren sie in verschiedenen Pflegeberufen tätig. Auch Frank Wagner hat seine Berufung entdeckt. Für ihn liegt sie in der engen Zusammenarbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung. Diese Erkenntnis bekam er aber viel später. Der heute 55-Jährige hat früher seinen eigenen Sicherheitsdienst geleitet. Aber dann änderte sich sein Privatleben. Das führte dazu, dass er auch beruflich einen neuen Weg einschlagen wollte. Mit Ende 40 machte er die 3-jährige Ausbildung zum Heilerziehungspfleger. Nun arbeitet er als Schulassistent an einem Gymnasium in Bremen-Nord. Dort betreut er den 16-jährigen Thorben. Thorben lebt mit Autismus. Er kann nur wenig sprechen und er zeigt zwanghafte Verhaltensweisen. Für Thorben ist wichtig, dass bestimmte Abläufe immer gleich sind. Sie müssen so stattfinden, wie er es gewohnt ist. Wenn etwas abweicht, dann reagiert er auch mal extem“, beschreibt Wagner. Auch er hat miterlebt, wie Türen zu Bruch gingen und wie sein Schüler gewalttätig wurde. Er griff sich und andere an. Diese Situationen sind für den muskulös gebauten Wagner gleichzeitig ein Ansporn: „Ich suche mir immer die schweren Fälle aus. Denn ich bin mir sicher, dass meine Arbeit was bewirken kann. Man muss sich nur in die Menschen hineinfühlen können.“ Thorben hat Bedürfnisse – kann diese aber nicht ausdrücken. Frank Wagner versteht die Kunst seines Jobs darin, diese Bedürfnisse zu erkennen. „Thorben versteht 99 Prozent von dem, was um ihn herum erzählt wird. Er versteht Kommunikation nur anders. Für ihn ist ,Nein’ ein sehr schlimmes Wort. Das bezieht er immer auf sich, egal an wen es gerichtet ist. Es kann dazu führen, dass er sich selbst Gewalt zufügt. Das ist schon vorgekommen“, schildert Wagner ein Beispiel aus dem Berufsalltag. Um solche Situationen richtig zu deuten, muss man sich in Thorben hineinversetzen. Man muss erkennen, was er fühlt oder ahnen, was er denkt. Diese besondere Fähigkeit führt Wagner auch auf seine Lebenserfahrung zurück. Er spricht von seinem Job beim Sicherheitsdienst: „Schon früher musste ich damit rechnen, dass jemand aus dem Nichts durchdreht. Hier habe ich gelernt, wie Menschen ticken, um deeskalierend eingreifen zu können. Davon profitiere ich heute.“

Teamwork ist der Schlüssel

Wagner, Morisse und Klinner verfolgen dasselbe Ziel. Schüler*innen sollen selbstständig am Schulleben teilnehmen können. Doch wie ist ein gemeinsamer Unterricht vorstellbar? Denn immerhin haben Kinder in der Klasse ganz unterschiedliche Bedarfe. Die Stimmen von Eltern, die Angst haben, werden lauter. Sie sorgen sich, ob ihre Kinder ausreichend gefördert werden. Und auch Lehrer*innen äußern öffentlich Kritik.

Einige bezweifeln, dass ein “normaler“ Schulunterricht noch möglich sei. Alle 3 Fachkräfte können diese Haltung nachvollziehen. „Der Unterricht ist nicht vergleichbar mit dem, den ich früher erlebt habe. In der Klasse ist es viel lauter und hektischer. Zu unterschiedlich ist das Leistungsniveau. Auch Sprachbarrieren spielen immer mehr eine Rolle“, bestätigt Sarah Morisse. Frank Wagner spricht von einem „guten Ansatz“. Der stecke aber noch in den Kinderschuhen. Es müsse sich grundsätzlich etwas verändern. Nur dann könne eine inklusive Bildung sichergestellt werden. Diese Ansicht vertritt Christa Drescher. „Es braucht ein kollektives Umdenken. Die Förderung der Fähigkeiten muss im Vordergrund stehen und nicht die Behebung von Problemen. Diese Haltung muss bei der Entwicklung von Lösungsstrategien Grundvoraussetzung sein. Mehr Betreuungspersonal in die Klassen zu schicken, wäre ein Kampf gegen Windmühlen. Schon jetzt gibt es zu wenige Fachkräfte“, erklärt die Fachleiterin. Gemeinsames Lernen kann nur durch Zusammenarbeit gelingen. Teamwork ist der Schlüssel für die 3 Fachkräfte. Jede von ihnen soll sich eigentlich nur um ein Kind kümmern. So lautet ihr Auftrag. Aber sie bringen sich in die Klassengemeinschaft ein. Alle 3 haben Glück. Sie werden als vollwertige Teammitglieder akzeptiert. „Dass ich in der Klasse unterstütze, gehört einfach dazu. Ich habe ein gutes Verhältnis zu den Klassenlehrern. Auch zu Sonderschulpädagogen und den anderen Kindern. Das ist gut für Markus. So wird er einfacher in die Gruppe aufgenommen“, schildert Jennifer Klinner. Für sie wäre es keine Option, dass ihr Schüler eine Förderschule besucht: „Auch wenn er manchmal stört, erfährt Markus in der Klasse große Wertschätzung. Seine Klassenkameraden profitieren von ihm.“ Sarah Morisse, Jennifer Klinner und Frank Wagner haben den gleichen Antrieb. Alle haben große Leidenschaft für ihren Job. Sie schätzen die Zusammenarbeit mit Kindern. „Bei Erwachsenen geht es mehr ums Bewahren“, sagt Frank Wagner. Bei Kindern sei es wichtiger, ihnen Fähigkeiten beizubringen. Reich wird man als Schulassistenz eher nicht. Dennoch bietet die Arbeit besondere Vorzüge. „Kein Schichtdienst und die kompletten Schulferien zur freien Verfügung. Das war schon wichtig, als ich mich beworben habe“, lacht Jennifer Klinner. Auch Sarah Morisse weiß um die Vorzüge ihres Jobs. Gerade befindet sie sich in Elternzeit. In 2 Jahren wird sie wieder in die Schule gehen. Dabei kann sie mitentscheiden, an welche Schule sie kommt. „In welchem Job hat man schon so viel Mitspracherecht? Diese Planbarkeit ist für meine Familie unschlagbar“, freut sich die werdende Mutter.

Klingt interessant?

Sie können sich vorstellen, als Assistenzkraft in Schule zu arbeiten? Dann senden Sie uns Ihre vollständige Bewerbung als E-Mail an:

Fragen beantwortet Ihnen gerne Christa Drescher unter 0421-53 747 788 oder

Sie arbeiten in einem sozialen Beruf und möchten sich weiterentwickeln? Das Fortbildungsinstitut m|colleg ist die richtige Anlaufstelle für Sie. Die Angebote finden Sie auf: www.mcolleg.de

 

*Die Namen der Kinder in diesem Text wurden verändert. Auch andere persönliche Daten haben wir abgewandelt. Damit wollen wir die Personen vor unangemessenen Reaktionen schützen.

Der Text ist für die Ausgabe 02-2019 vom Magazin „m“ entstanden. Hier finden Sie eine Übersicht aller Ausgaben.

Drescher, Christa
Jugendhilfe
Fachleitung Jugendhilfe